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Piraterie ist eine Frage des Standpunkts. Von Gerd Folkers

Die Mythen um Piraten sind viele. Für die einen waren und bleiben sie Verbrecher, für die anderen Mittel zum Zweck – um politischen, aber vor allem wirtschaftlichen Gegnern durch ihre Kaperfahrten Schaden zuzufügen. Dies meist auf ganz banale Weise: durch Einschüchterung. So wurden über die Geschichte hinweg absichtlich Schreckensszenarien aufgebaut und Schiffsrouten gemieden. Somalia lässt grüssen. Was dabei entstand, war ein gewaltiger Mehraufwand, der die Fracht verteuerte, Waren verknappte und infolge einige Leute schön verdienen liess. So verhielt es sich beispielsweise im Europa des Mittelalters: Zur Schädigung der Hanse, eines Verbunds europäischer Städte und Kaufleutefamilien zur Beherrschung des nördlichen Welthandels, gingen Staaten wie Dänemark Verträge mit Piraten und Freibeutern ein. Deren Aufgabe war es, die Hanseschiffe – die berühmtem «Koggen» – zu kapern. Als Gegenleistung durften sie die erbeutete Ware auf dem freien Markt verkaufen. Doch wer waren die Abnehmer? Mit grösster Wahrscheinlichkeit die Hansestädte selber. Und warum kommt einem das mit der heutigen Steuer- und Datenpiraterie so bekannt vor? Weil Piraterie früher wie heute eine Frage des Standpunktes ist: Ob man Wirtschaftsminister in Deutschland oder in der Schweiz ist, ändert die Einstellung zu einer CD mit Bankdaten – physikalisch wie ethisch.

Während sich die Piraten der Karibik gegenwärtig gut in Hollywood verkaufen lassen und manch einer das romantische «Freibeuterleben» beneidet, tummeln sich heute viele reale Piraten in der Musikindustrie – und müssen dafür ins Gefängnis. So die Betreiber des weltgrössten Filesharing-Portals «The Pirate Bay». Das Stockholmer Bezirksgericht hat sie wegen «Komplizenschaft bei der Bereitstellung von Raubkopien» zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von umgerechnet 2,74 Millionen Euro verurteilt. Den Schadensersatz hatte eine Allianz aus Medienkonzernen gefordert, darunter Columbia Pictures, EMI, Sony Music Entertainment und Warner Bros. Doch wiederum: Auch das Bild der heutigen Internet-Piraten ist eine Frage der Perspektive. So hat es der erste Server genau dieser Macher von Pirate Bay ins Museum geschafft. Das technische Museum von Stockholm kaufte das Stück für umgerechnet 186 Euro, nachdem es von der Polizei beschlagnahmt worden war.

Selbst die Unterscheidung zwischen Original und Kopie sowie die daraus resultierende Verurteilung des Nachahmens sind abhängig vom Kontext. Erst in der Neuzeit sprechen wir von Plagiaten und erst in allerneuster Zeit verfügen wir über ausgefeilte Methoden, um diese nachzuweisen. Und auch heute ist das «Kopieren» für die einen ein Verbrechen gegen das geistige Eigentum, für die andern eine neue Form von Kunst. Siehe dazu der Fall Helene Hegemann: Eine junge hochbegabte Frau schreibt einen Roman und wird von der Kritik gefeiert. Dann stellt sich heraus, dass sie sich ungeniert im Internet bedient hat. Die einen sehen das als Piraterie, die andern als neue Kunstform der Literatur.

Ob verurteilt oder gefeiert, die Piraterie verändert unsere Gesellschaft und das Verständnis von Besitz. Denn Piraten waren und bleiben Treiber neuer sozialer Rollenmuster, heute als Verfechter des freien Datenzugriffs in einer vom Patentschutz geprägten Gesellschaft, im Spätmittelalter als Piraten des Nordmeers, den sogenannten «Likedeelern», die ihre Beute im Unterschied zu den sonst hierarchischen Gesellschaftsstrukturen gerecht in der Mannschaft verteilten.

 

 

Gerd Folkers wurde 1991 als Professor für Pharmazeutische Chemie an die ETH Zürich gewählt. Zuvor promovierte er an der Universität Bonn (D) und arbeitete nach verschiedenen Auslandsaufenthalten am Pharmazeutischen Institut der Universität Tübingen (D), wo er 1990 über Drug Design habilitierte. Er ist Mitglied des nationalen Forschungsrates der Schweiz und Geschäftsleitungsmitglied verschiedener Startup-Unternehmen. Er hat ein Spin-off-Unternehmen für eine virtuelle Lernplattform im Bereich Biomedizin gegründet und ist Autor und Herausgeber von zahlreichen Artikeln und Büchern zur Arzneimittelforschung und -entwicklung. Seit 2004 leitet er das Collegium Helveticum als gemeinsame Institution der Universität und der ETH Zürich.

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