Die Verschmelzung von Mensch und Maschine hat längst begonnen. Und das Potenzial, das sich dadurch für uns bietet, ist bei Weitem nicht ausgeschöpft. Damit aber nicht nur ein paar wenige von den Chancen der Cyborgisierung profitieren, muss die neue Spezies mit offenen Armen empfangen werden.
Wir sind auf dem besten Weg, alle zu Cyborgs zu werden. Pendlerzüge sind voll mit Passagieren, die sich an Smartphones, Tablets, Laptops und E-Readers klammern. Vergisst man eines der Geräte, fühlt man sich verunsichert und unruhig, beinahe als ob einem ein Teil seiner selbst abhanden gekommen wäre. Diese Devices sind Teil von Identitäten; sie verwalten unsere persönlichen Daten, kommunizieren mit unseren Liebsten und konservieren Momente und Erinnerungen in Form von Fotostrecken und MP3s. Sie sind kein Ersatz für menschliche Emotionen, das Gedächtnis und den Verstand, aber sie sind ohne Zweifel in der Lage, deren Kapazitäten auszubauen. Geräte wie diese legten den Grundstein für die Cyborgisierung und sie markieren den Übergang zu einem neuen Verständnis von Identität; einem Selbstbild, für das Technologie so natürlich und selbstverständlich zum Alltag gehört wie die Luft, die wir atmen.
Ohne es darauf angelegt zu haben, kommen einige unter uns diesem neuen Identitätskonzept bereits sehr nah: Herzschläge werden von Schrittmachern reguliert, Elektroden ins Ohr eingesetzt, um Nerven zu stimulieren sowie bis dahin unbekannte Sinne zu mobilisieren, und Netzhautimplantate bringen Licht, Form und Farbe zurück ins Leben derer, die die Hoffnung schon lange aufgegeben hatten, je wieder zu sehen. Diese Technologien sind diskret und zielen auf die Aufrechterhaltung des Status quo – sie erschaffen Cyborgs, ohne es zu wollen.
Überwindung der Grenzen menschlicher Natur
Allerdings haben die letztjährigen Paralympischen Spiele gezeigt, dass «Human Enhancements» nicht mehr länger nur dazu da sind, das naturgegebene Leistungsvermögen eines Menschen wiederherzustellen: Sie optimieren es. Sich dessen bewusst, werden die Grenzen der menschlichen Physis immer stärker ausgetestet. ähnlich wie Juri Gagarin mit der ersten orbitalen Weltumkreisung oder Jacques yves Cousteau, der für seine Forschung in dunkelste Meerestiefen abtauchte, konzentrieren sich die Cyborgs des 21. Jahrhunderts nicht auf die Einschränkungen des menschlichen Daseins, sondern auf die unzähligen Möglichkeiten zur Verbesserung, die sich uns bieten – wenn wir den nächsten Schritt wagen.
So entwickelte etwa der farbenblinde Künstler Neil Harbisson den Eyeborg, ein am Kopf angebrachtes Gerät, das mit einem Sensor Farben erfasst, diese in akustische Signale umwandelt und dem Träger über die Schädelknochen an das Ohr weiterleitet. Damit kann Harbisson die übermittelten Tonfrequenzen interpretieren und nun nicht nur Farben wahrnehmen, sondern auch Spektren wie Infrarot oder Ultraviolett, die für das menschliche Auge gar nicht greifbar sind. Er plant, das Hilfsmittel permanent in seinen Schädel zu implantieren. Ein anderer Eyeborg, Rob Spence, hatte als Teenager sein rechtes Auge verloren und ersetzte es 2010 mit einer augapfelförmigen Wireless-Videokamera. Obwohl das Gerät nicht mit dem Sehnerv verbunden ist und keine biologische Funktion erfüllt, zeigt es, wie ein Individuum seinen Körper mit externer Hilfe seiner Identität anpassen kann – im Fall von Rob Spence seinem Beruf als Filmemacher. Und nicht zu vergessen das selbst ernannte Versuchskaninchen der Cyborgisierung: Kybernetikprofessor Kevin Warwick. 1998 implantierte er sich einen RFID-Chip in seinen Arm und 2002 versah er seinen Mittelarmnerv mit einer 100-teiligen Elektrodenanordnung. Letzteres ermöglichte es ihm, elektronische Geräte per Computer-Interface zu steuern; die implantierten Elektroden registrierten die elektrischen Signale, die von seinen Bewegungen ausgingen, und ein Algorithmus leitete sie weiter – beispielsweise an eine robotische Hand. Als seiner Frau ebenfalls Elektroden ans Nervensystem angeschlossen wurden, konnte Warwick unter anderem sogar spüren, wann immer sie ihre Hand schloss. Während unsere Technologiehörigkeit vielerorts mit der Sorge um Entfremdung einhergeht, würden Warwick, Harbisson und Spence das Gegenteil behaupten – nämlich, dass sie uns ein besseres Verständnis unserer Umwelt eröffnet und unzählige Möglichkeiten birgt, auf neue, intimere Weise mit unseren Mitmenschen zu interagieren.
Die drei haben eine weitere Sache gemeinsam: Der Status quo des menschlichen Daseins ist für sie unbefriedigend. Denn: Warum sollen wir uns in einem Zeitalter, in dem Supercomputer 17,59 Billiarden Daten pro Sekunde verarbeiten, damit zufriedengeben, diese Kapazitäten ausschliesslich ausserhalb unseres Körpers zu nutzen? Das Verlangen, den menschlichen Körper mit Daten zu füttern, und der Wunsch, Technologie und Biologie miteinander zu verschmelzen, sind augenscheinlich. Und wenn youTube-Videos Do-it-yourself-Bodyhackern erklären, wie man Magnete unter die Haut implantiert, um die sensorische Identifizierung von elektromagnetischen Feldern zu ermöglichen, dann ist klar, dass dieses Begehren nicht mehr länger einer stillen Minderheit vorbehalten bleibt.
Die nächsten Schritte der Cyborgisierung
Obwohl Do-it-yourself mittlerweile in aller Munde ist und Cyborgpioniere immer wieder Stoff für Schlagzeilen liefern, bedarf es noch weiterer Forschung, bis eine umfassende Cyborgisierung Wirklichkeit werden kann. Die gute Nachricht? Die bisherigen Erkenntnisse sind erstaunlich und verändern jetzt schon die Leben ganz normaler Menschen.
Bionische Prothesen und BCIs (Brain Computer Interfaces), die das Nervensystem mit Technologie speisen, lassen bereits erahnen, wozu wir – über menschliche Leistungsstärken hinaus – in der Lage sein könnten. Im Februar 2013 erhielt ein Amputationspatient die erste gedankengesteuerte Prothese, deren Elektroden dauerhaft mit Nerven- und Muskelsträngen verbunden sind. Deren Signale werden mittels Algorithmen in Bewegungen des teilim-plantierten und mit dem Knochen verbundenen Arms übersetzt. Normalerweise operieren robotische Prothesen über Elektroden auf der Haut. Mit der direkten Anbindung ans Nervensystem erhofft man sich, dass der Patient nicht nur die Kontrolle über das Glied, sondern auch eine Art «Gefühl» dafür zurückgewinnt. Und BrainGate implantierte einer gelähmten Frau, die ihr Sprachvermögen verloren hatte, einen 4 Millimeter breiten Chip mit 96 haarfeinen Elektroden ins zentrale Nervensystem. Im Mai 2012 nahm Cathy Hutchinson zum ersten Mal seit 15 Jahren einen Schluck Kaffee zu sich – ohne Hilfe. Wie? Mit ihren Gedanken instruierte sie eine robotische Hand, die Tasse zu greifen und zu ihrem Mund zu führen. Der Chip in ihrem Gehirn liest Signale der zuständigen Neuronen und ein Prozessor übersetzt sie in Bewegungen. Die Technologie ist beeindruckend; die Wirkung und das Lächeln im Gesicht der Frau sind unbezahlbar.
Erweiterungen dieser Experimente indizieren bereits, wohin uns die Technologie in Zukunft führen wird. Im Februar 2013 gab das «Journal of Neural Engineering» die Erfindung eines kabellosen Neurosensors bekannt. Das wiederaufladbare Implantat wurde an Tieren getestet und übermittelt mit 24 Megabyte pro Sekunde Signale von 100 Neuronen. Das bedeutet, dass Menschen wie Cathy Hutchinson eines Tages nicht mehr auf klobige, am Kopf angebrachte Geräte angewiesen sein werden, um Daten zu verarbeiten und an Roboterprothesen weiterzuleiten – die neuronalen Signale werden drahtlos und auf direktem Weg übermittelt. Dies wird einer der ersten Schritte hin zur weitreichenden Adaption implantierbarer Technologie sein. Analog zu Entwicklungen innerhalb der Mobiltechnologie werden auch diese Geräte diskreter, nützlicher und allgegenwärtiger sein, je kleiner und leistungsstärker sie werden. Herzimplantate, die sich über Radiowellen aufladen, befinden sich bereits in der Testphase und deuten darauf hin, dass diesbezüglich in absehbarer Zeit keine Eingriffe von aussen mehr nötig sein werden. Sobald diese Geräte sich selbst aufladen können und zum festen Bestandteil des menschlichen Körpers werden, wird Technologie zum integralen Bestandteil der individuellen Identität. Sprich: Die sperrige Verdrahtung des Körpers macht eben noch keinen Cyborg aus.
Sobald die Geräte nicht mehr mit blossem Auge zu erkennen sind, werden auch Körper-Apps das Feld aufrollen. Gemäss Voraussagen von IBM wird gedankengesteuerte Technologie wie die von BrainGate 2017 auf das Internet der Dinge treffen. Sensoren werden unsere Gedanken lesen und indem wir bloss daran denken, werden wir Anrufe tätigen oder Lichtschalter bedienen können. Tragbare Geräte werden schrumpfen und in Kleidung integriert sein – EPOC von Emotiv zum Beispiel wandelt mit Hilfe von 14 Sensoren bereits elektrische Signale des Gehirns in Computerspielaktionen um. Die Vorstellung einer Zukunft, in der RFID-Tags unter die Haut implantiert werden, lässt jedoch Fragen um Überwachung und Privatsphäre laut werden und könnte den Fortschritt dieser Entwicklungen verzögern. Trotzdem war IBM in entsprechender Forschung aktiv – etwa ein Jahr vor der Markteinführung von Google Glass erkannte man den Trend, dass Menschen auf kurze Sicht eher zu tragbaren als zu implantierbaren Devices greifen. Vielleicht sind wir heute noch nicht bereit dazu, uns ohne triftigen Grund Chips implantieren zu lassen oder gesunde Gliedmassen durch leistungsstärkere bionische Prothesen zu ersetzen. Tragbare Geräte und Augmented Reality (AR) können diese Kluft in der Zwischenzeit schliessen, indem sie unsere Sinne auf intuitivere und zugänglichere Art erweitern.
EPOC und Google Glass sind bereits auf dem Markt. Letzteres ist für den etwas elitären Preis von etwa 1000 Pfund zu haben, was darauf hindeutet, dass die Cyborgwerdung und die damit einhergehende Kommodifizierung menschlicher Leistungsoptimierung – zumindest in naher Zukunft – weniger der Masse zugute kommen wird als vielmehr ein paar wenigen. Als demokratisiertere Version des Cyborgismus steht Harbissons Eyeborg-Software gratis zum Download zur Verfügung. Darüber hinaus bleibt die öffentliche Förderung solcher Initiativen tendenziell aus. Dabei könnte eine Kommerzialisierung die nötigen Mittel für die Forschung generieren, die erforderlich ist, um entscheidende Entwicklungssprünge zu machen. Digitale bionische Augen mit eingebetteter AR, die Freiheit, seinen Körper nach den Bedürfnissen der individuellen Tagesagenda zu formen, ein komplettes Ersatzteillager für Organe und vielleicht sogar Telepathie – all das könnte dieser Fortschritt mit sich bringen. Zieht man die offensichtlichen Hemmschwellen in Betracht – gesunde Körperteile aus freiem Willen durch leistungsstärkere künstliche zu ersetzen –, scheinen die ersten beiden Szenarien noch weit entfernt. Aber Visionen drei und vier sind vielleicht schon näher, als man denkt.
Die Ungläubigkeit und eine fast beschämte Verlegenheit, die Psychologe Bertold Meyer beim Betrachten des ersten bionischen Menschen, Rex, an den Tag legte, lässt erahnen, dass wir noch nicht für die komplette Cyborgisierung bereit sind. Das Projekt zeigte aber auch, wie nah wir dran sind. Mit Rex konnten Biologen und Robotiker beweisen, dass 60 bis 70 Prozent des menschlichen Körpers wiederhergestellt werden können. Um die letzten 30 Prozent zu füllen, hat die Heriot-Watt University in Schottland bereits ein System ausgearbeitet, das den 3D-Druck von Stammzellen möglich macht und die Grundbausteine liefert, um eines Tages mittels 3D-Drucks Organe zu ersetzen. Wissenschaftler der Harvard University haben eine Möglichkeit gefunden, nanoskalige Elektrodenanordnungen zu bauen, auf denen Cyborggewebe wachsen kann. Da bleibt nur noch das Gehirn, das sich zum Beispiel laut der 2045 Initiative in wenigen Jahrzehnten komplett als Avatar hochladen lassen soll und ausgetauscht werden könne. Es ist zwar eher unwahrscheinlich, dass man sich in nächster Zeit mit diesem Gedanken anfreunden wird. Eine im «Scientific Reports» publizierte Studie hat jedoch gezeigt, dass BCIs es uns eines Tages ermöglichen werden, Gedanken zu lesen. Neurowissenschaftler implantierten Elektroden in die Gehirne zweier Ratten – eine davon in Brasilien, die andere in den USA –, stellten via Internet eine Verbindung her und liessen die beiden Tiere gleichzeitig dieselbe Aufgabe lösen. Die Forscher konnten nachweisen, dass die Ratten voneinander lernten und miteinander kommunizierten. Dies könnte zu einer Art Gehirnvernetzung führen, einem kollektiven Verstand gewissermassen, der theoretisch Probleme lösen könnte, die ein Individuum alleine nicht bewältigen kann. Das wirft natürlich Fragen nach dem Verlust der individuellen Identität auf. Man stelle sich eine Welt vor, in der jeder einzelne Verstand der Welt mit allen anderen verbunden ist: Strassen wären verkehrsfrei und Schlangestehen gehörte der Vergangenheit an – möglicherweise allerdings zum Preis von Privatsphäre und Freiheit.
Die Angst vor der neuen Spezies
Solange der Cyborg eine unbekannte und misstrauisch beäugte Randentität bleibt, die die traditionelle Definition von Menschsein in Frage stellt, bleiben Themen wie eine antidemokratische Cyborgbewegung und das Aufkommen einer Zweiklassengesellschaft, deren Elite sich einen überragenden Verstand und den dazugehörigen Superkörper finanzieren kann, um in der Folge die besten Jobs und die höchste gesellschaftliche Stellung innezunehmen, völlig irrelevant.
Wenn die Geschichte der Menschheit uns etwas gelehrt hat, dann, dass wir das «andere» fürchten; das Unbekannte ist Keimquelle für Terror, Paranoia und instinktives Abwehrverhalten. Es diente als Vorwand für Kriege und vielen anderen Gewalttaten als Deckmantel. Der Akzeptanz von Fortschritt liegen unterschiedliche Motive zugrunde. Der entscheidende Punkt wird sein, ob er auf persönlicher Ebene einen Nutzen bringt. Um das «andere» als Norm zu etablieren, muss der Mehrwert für das Individuum unverkennbar sein.
Innerhalb der Gehörlosengemeinde empfinden manche Mitglieder Hörimplantate als Affront gegen ihre Kultur und Identität. Werden sich die Menschen auch so fühlen, wenn die Reichen anfangen, ihre Beine durch schnellere Modelle zu ersetzen und ihre Sehkraft mit Augmented Reality zu optimieren? Wir definieren uns als Mensch, weil wir zwei Arme und zwei Beine aus Fleisch und Blut haben – Glieder, die bluten und brechen. Dem Verfall vorzubeugen, ist sicher eine gute Sache. Wenn aber ein Teil der Gesellschaft auf diesen Zug aufspringt, während der Rest an Ort und Stelle festsitzt, könnte dies die Definition des Menschen an sich in Frage stellen – es könnte eine neue Spezies hervorbringen. Um sicherzustellen, dass diese Spezies mit offenen Armen empfangen wird, müssen wir uns dringend mit ihr auseinandersetzen und dafür sorgen, dass ihre Entwicklung für alle jederzeit transparent bleibt.
Liat Clark ist Reporterin beim Technologiemagazin «Wired». Davor schrieb sie unter anderem für «GQ», «The Independent» und «The Metro» mit Themenschwerpunkt Wissenschaft und Technologie.