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Das ungenutzte Wissen. Von Günter Abel

Die Fixierung auf möglichst effiziente Prozesse und die Marktfähigkeit von Produkten führt oft lediglich zu Scheininnovation. Wenn wir wirklich zukunftsfähige Erneuerungen anstreben, müssen wir den Blick schärfen für zwei oft vernachlässigte Quellen der Innovation: Kreativität und implizites Wissen.

 

«Innovation» wird allerorten gefordert, in Wissenschaften und Technologien, in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften hängt von ihr ab, so heisst es. Entsprechend sind die Quellen, Mechanismen und Ressourcen der Innovation zur Fahndung ausgeschrieben. An dieser beteiligen sich die Praktiker des Wissens ebenso wie Theoretiker und Künstler. Gleichwohl ist der Fahndungserfolg bis heute gering. Das Rätsel der Innovation ist nach wie vor ungelöst.

Mehr noch: kurzatmige Fixierungen auf das fertige Produkt, Effizienz und Marktfähigkeit gefährden die Suche nach den Ressourcen der Innovation. Stattdessen könnte eine Konzentration auf die Prozesse der Generierung kreativer Innovationen den Blick schärfen für die Quellen zukunftsfähiger Innovation. Diese sind Kreativität und implizites Wissen. 

Kreativität als Quelle der Innovation

Kreativ sein heisst, Neues in die Welt zu bringen, nicht bloss Neuartiges. Zwar können wir durch Kombination bereits bekannter Elemente viele Neuartigkeiten produzieren. In radikaler Kreativität jedoch (etwa bei Leistungen bahnbrechender Künstler, Forscher, Ingenieure und Unternehmer) werden nicht nur Dinge innerhalb eines gegebenen Systems neu kombiniert. Vielmehr treten neue Prinzipien und Regeln in Kraft. Das Material wird neu organisiert. Neue Prozesse, Praktiken und Artefakte werden in die Welt gesetzt. Bekannte Beispiele sind etwa die Kopernikanische Revolution, derzufolge nicht die Sonne sich um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht; der Übergang zur Nicht-Euklidischen Geometrie; der Übergang zur perspektivischen Darstellung in Malerei und Architektur oder die Entwicklung von Computern und neuen technischen Systemen. Kreativität ist die wichtigste Quelle der Innovation. Daher ist es aufschlussreich, sich die Merkmale kreativer Prozesse in Form von einfachen Heuristiken vor Augen zu führen. Stenogrammartig seien hier einige von ihnen genannt:

1. Habe Mut, Neues auszuprobieren. 2. Lasse deiner lust am Experimentieren freien Lauf. 3. Wage neue Verbindungen von Methoden, Praktiken und Strategien der Problemlösung. 4. Stelle Analogien zwischen scheinbar entlegenen Bereichen her. 5. Aktiviere deine Imagination und gib dich frei für Gedankenexperimente. 6. Bringe unterschiedliche Ebenen der Betrachtung in Beziehung. 7. Führe neue Gesichtspunkte und unterschiedliche Abstraktionsgrade ein. 8. Denke weniger disziplinen-, sondern entschieden problemorientiert. 9. Wechsle zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Beschreibungssystemen. 10. Und last but not least: Achte auf deinen Humor, denn wer keinen Sinn für Humor, Witz und Spielerisches hat, wird kaum als kreativ und innovativ gelten können.

Implizites Wissen als Ressource

Im Wissen steckt mehr als man weiss, und wir wissen mehr, als wir explizit sagen können: Fähigkeiten, Kompetenzen, Kontexte, Hintergründe, Einstellungen, Zwecke, Gewohnheiten und vieles mehr. Ein Beispiel für explizites Wissen wäre das erwähnte naturwissenschaftliche Wissen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Solches Wissen ist bewusst, in einer Sprache artikuliert, spezifisch, mitteilbar und intersubjektiv überprüfbar. Ein Beispiel für das darin bereits in Anspruch genommene implizite Wissen – das im Gegensatz zum expliziten häufig nicht (mehr) bewusst wahrgenommen wird – wäre beispielsweise das Wissen, wie man eine physikalische Hypothese überprüft und wie man eine entsprechende Messapparatur bedient. Um ein explizites Wissen von etwas haben zu können, muss man bereits viel von dem umfänglicheren impliziten, das heisst noch unspezifizierten und nicht-bewussten Hintergrundwissen in Anspruch nehmen.

Für die in Sachen Innovation auf Effizienz und Wachstum reduzierte Debatte ist kennzeichnend, dass Innovation auf den Bereich des expliziten Wissens begrenzt wird. Die mit dem Netzwerk des impliziten Wissens gegebenen Möglichkeiten einer flexiblen Neuorganisation der Komponenten dieses Netzwerks treten selten in den Blick. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil leicht sich das Tausendfüssler-Syndrom einzustellen droht, demzufolge die automatisierten Fähigkeiten verloren gehen können, sobald sie zu sehr hinterfragt werden: Paralyse durch Analyse.

Von diesem Syndrom können zum Beispiel auch Tennis- oder Billardspieler ein Lied singen, deren Leistung oft massiv abfällt, sobald sie sich ihre ansonsten intuitiv ausgeführten Taktiken bewusst zu machen versuchen. Gleichwohl hängt die kreative Verbesserung ihres Spiels vornehmlich davon ab, Veränderungen in dieser Dimension herbeizuführen. Die entsprechenden Umakzentuierungen und Neuausrichtungen sind für die Generierung von kreativ Neuem besonders wichtig. Im Netzwerk impliziten Wissens schlummern Möglichkeiten für kreative Problemlösungen.

Der Bereich des impliziten Wissens lässt sich näher kennzeichnen. Für Michael Polanyi, einen Theoretiker des impliziten Wissens, besteht dessen Struktur aus einem «proximalen» und einem «distalen» Teil. Der proximale Teil ist uns so nahe und selbstverständlich, dass wir ihn gar nicht bemerken, sondern, wenn überhaupt, bloss unterschwellig registrieren. Auf den distalen Teil dagegen fokussieren wir unsere praktisch-prozedurale (nicht unsere theoretische) Aufmerksamkeit. Letzteres ist zum Beispiel der Fall, wenn wir beim Fahrradfahren darauf achten, den Druck auf das Lenkrad so zu gestalten, dass wir das Gleichgewicht halten. Das distale implizite Wissen ist eine Praxis, nicht eine Theorie. Diese Praxis wird oftmals vergessen, wenn wir, theorielastig, etwas Neues zu denken versuchen.

Implizites Wissen ist geradezu dadurch gekennzeichnet, dass es nicht einfach in den Raum des Expliziten zu ziehen ist. Entdeckungen machen und Innovationen generieren zu können, nimmt jedoch genau solcherart Differenzen und Explikationen zwischen dem expliziten und dem impliziten Wissen und innerhalb des impliziten Wissens wiederum zwischen distalen und proximalen Aspekten in Anspruch. Dabei kann das implizite Wissen als eine Zwischenform zwischen explizitem Wissen und Nichtwissen verstanden werden. Kommt es zu Verschiebungen in dem Verhältnis zwischen explizitem und implizitem Wissen und/oder dem proximalen und dem distalen Teil von letzterem, dann, so die These, kann es zu kreativen Innovationen kommen. Es geht also darum, die Relevanz von Hintergrundwissen und automatisierten Abläufen zu erfassen und produktiv zu machen, die so selbstverständlich sind, dass man ihnen kaum eigens mehr Beachtung schenkt. Vor-bewusstes Wissen ist in bewusstes zu transformieren und beide sind nach Möglichkeit zu artikulieren und im Hinblick auf Problemlösungen fruchtbar zu machen. Solche Transformation impliziten Wissens ist nicht einfach ein lineares und kein einfaches Geschäft. Sie lässt sich in drei unterschiedliche Typen unterteilen, gestaffelt nach dem Grad, in dem sie der Artikulation und Transformation in explizites Wissen und in Innovationen zugänglich ist.

1. Faktenwissen bewusst machen

Polanyis Beispiel zum impliziten Wissen ist bekannt: Ich schlage einen Nagel in die Wand. In dieser Handlung ist die Aufmerksamkeit distal auf Nagel und Hammer gerichtet. Ich achte nicht auf die vielen proximalen Komponenten, ohne welche die Aktion nicht gelingen würde: meine Handbewegung, die Stellung der Finger, die Festigkeit des Handdrucks und vieles mehr.

Nehmen wir an, wir wollten nun eine Maschine konstruieren, die uns das Einschlagen von Nägeln in die Wand abnimmt. Hierzu müssen Grössen des proximalen Teils meines impliziten Wissens in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und weiter dann in eine maschinelle Konstruktion umgesetzt werden (zum Beispiel die Schlagstärke der Maschine in Relation zur materiellen Beschaffenheit der Wand). In solchen Fällen wird der in Sprache und Konstruktionsregeln artikulierbare Teil des impliziten Wissens expliziert und in die Konstruktion eines Gerätes umgesetzt. Man denke auch an Versuche, Robotern menschenähnliche Wahrnehmungen und Handlungsfähigkeiten beizubringen. Auch hier müssten neben dem expliziten Wissen das in Wahrnehmungen und Handlungen involvierte implizite Wissen und innerhalb dieses impliziten Wissens wiederum neben den distalen Aspekten auch die unauffällig mitlaufenden proximalen Aspekte explizit gemacht und im Sinne eines Transfers «natürlicher Intelligenz» in den Roboter gebracht werden. Kurz: Der Roboter müsste mit Hintergrundwissen programmiert werden, das nicht nur der «formalen künstlichen Intelligenz», sondern unter Einschluss des impliziten Wissens der «nicht-algorithmischen, natürlichen Intelligenz» des Menschen folgt.

2. Verhaltensformen herausdestillieren

Nehmen wir an, wir wollten unser Rechtssystem und gesellschaftliche Institutionen innovativ verbessern. In der Regel agieren wir in gesellschaftlichen Institutionen unter Einsatz einfacher, erfolgreicher Heuristiken, also quasi-intuitiv ausgeführten, auf Erfahrungswerten beruhenden Handlungen. Wir agieren so wie es den institutionellen Gepflogenheiten und den eigenen Präferenzen entspricht. In diesen Handlungen ist stets auch ein in Gewohnheiten verankertes, implizites Wissen am Werke. Dessen Mechanismen bestehen vor allem in prozeduralen, prozesshaften und praktisch-normativen Komponenten etwa der Moral und des Rechts, deren flüssiges Funktionieren auf einem Wissen beruht, wie man etwas macht, nicht jedoch auf einem theoretischen Wissen. Ohne diesen praktischen Typus impliziten Wissens zu aktivieren, wäre es uns nicht möglich zu erfassen, was in einem fraglichen System des Rechts oder der Gesellschaft als Norm gilt und wie wir neue Normen und Regeln explizit etablieren können.

3. Hinter Handlungen stehende Werte und Weltbilder artikulieren

Die unter den punkten 1 und 2 angeführten Typen von im- plizitem Wissen konnten wir jeweils in den Fokus expliziter Aufmerksamkeit rücken. Explikationen des Impliziten werden jedoch schwieriger, je näher wir den Dimensionen vor-intentionaler, vor-reflexiver, vor-theoretischer und vor-sprachlicher Annahmen, Prozesse und Einstellungen kommen. In diesen treffen wir auf jene grundlegenden Vertrautheiten, die unser Welt-, Selbst- und Fremdverhältnis tragen.

Nehmen wir an, wir möchten eine Kultur des Vertrauens zwischen Personen befördern. Um diese «Innovation» in Gang zu setzen, reicht es nicht, aus dem Impliziten theoretische Einsichten zu destillieren oder praktisch-instrumentelles Verhalten zu extrapolieren. Hier ist vielmehr erforderlich, die fraglos funktionierende Ebene des Umgangs mit sich selbst und anderen aufzudecken und fruchtbar zu machen. Erst durch Einbeziehung dieses Typus von implizitem Wissen werden innovative Massnahmen zur Verankerung einer Kultur des Vertrauens möglich und können einstellungs- und handlungsleitende Kraft gewinnen.

Das Beispiel zeigt auch die kardinale Rolle des impliziten Wissens für den Dialog der Kulturen. Ihn zu führen heisst, die unterschiedlichen Dimensionen des impliziten Wissens einzubeziehen, die unter den expliziten Artikulationen von lebensweltlichem, weltbildhaftem, ethischem, ästhetischem, religiösem und/oder rituellem Wissen den eigentlichen Lebensnerv einer Kultur ausmachen. Vieles von dem, was wir an einer fremden Kultur zunächst nicht verstehen, ist darauf zurückzuführen, dass wir noch keinen Zugang zu dem umfänglicheren Setting der impliziten Wissensformen dieser anderen Kultur haben.

Explizites Wissen ist seinem Profil nach von implizitem Wissen unterschieden. Im expliziten Wissen kommt zum impliziten Wissen etwas hinzu, unter anderem die gesteigerte Aufmerksamkeit, die kognitive Spezifikation und die Orientierung auf praktische Problemlösungen. Erst das Verständnis des Wechselspiels zwischen implizitem und explizitem sowie zwischen den proximalen und distalen Aspekten des impliziten Wissens kann helfen zu verstehen, was eigentlich passiert, wenn auf kreative Weise neues Wissen generiert wird. Neben der Erweiterung und Verschiebung der Aufmerksamkeit vom expliziten auf das implizite Wissen und dort von den distalen auf die proximalen Komponenten müssen dabei vor allem diejenigen Heuristiken zum Zuge gebracht werden, die eingangs unter dem Titel der Kreativität als Quelle der Innovation genannt wurden.

 

Günter Abel ist Professor für Theoretische Philosophie und Direktor des Internationalen «Innovationszentrum Wissens- forschung (IZW) / Berlin Center for Knowledge Research» an der Technischen Universität Berlin. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören die Sprach- und Zeichenphilosophie sowie die Wissensforschung. Abel war u.a. Vizepräsident der Technischen Universität Berlin sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und hat mehrere Gastprofessuren wahrgenommen, so etwa an der ETH Zürich. Er ist Vorstandsmitglied des weltweiten Dachverbandes der nationalen Philosophie-Gesellschaften (FISP) und permanentes Mitglied des Institut International de Philosophie (IIP).

 

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