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Kant als Powerpoint. Gespräch mit Oliver Reichenstein

Von Mikael Krogerus


Je abstrakter die Informationen, die wir aufnehmen sollen, desto wichtiger wird deren Aufbereitung. Der Webdesigner Oliver Reichenstein über die Parallelen von Baukunst und Informationsarchitektur, die Frage, wie man mit Design das Denken fördern kann und warum er der Zigarette nachtrauert: Sie half beim Pausenmachen.

 

Herr Reichenstein, jedes Jahr werden 51 Millionen neue Websiten und eine Milliarde neue Facebook Profile hochgeladen. Wir machen 1,5 Billionen Google-Suchanfragen, verschicken 8,6 Billionen SMS und 52 Billionen E-Mails. Wir generieren, sammeln und speichern mehr Daten als je zuvor. Warum?

Alles, was nicht nachgewiesen werden kann, gilt als Geschwätz, und man braucht Daten, um etwas zu belegen. Aber die wachsende Datenmenge führt zu einer grossen Verunsicherung. Was stimmt? Wem kann ich noch vertrauen? Dem Lehrer? Dem Lexikon? Den Medien? Je mehr Daten wir sammeln, desto breiter wird unser Spektrum an möglichen Auslegungen und desto unsicherer werden wir in Bezug auf die Erfassung der Wirklichkeit. Statt sich hinzusetzen und nachzudenken, sammeln wir noch mehr Daten, in der Hoffnung, dass sich die Wirklichkeit so von selbst herauskristallisiert, während sich in den meisten Fällen dadurch aber bloss der Interpretationsspielraum vervielfältigt.

 

Daten können Luftschlösser entlarven...

... aber nicht jeder Blickwinkel auf die Wirklichkeit kann auf Datenbasis verifiziert werden! Ich verspüre angesichts des wachsenden Datenmüllbergs und des Unfugs, der damit getrieben wird, eher eine Sehnsucht nach ruhiger, langsamer, klarer Theorie als nach noch mehr Daten.

 

Andererseits verdienen Sie an der wachsenden Datenmenge. Sie bezeichnen sich als Informationsarchitekten. Was genau entwerfen Sie?

Ursprünglich ging es vor allem darum, hierarchische Ordnungssysteme zu bauen, also Büchereien zu ordnen oder Strukturbäume zu zeichnen, die aufzeigen, welches File wo auf dem Server abgelegt wird. Obwohl die «Architektur» in «Informationsarchitektur» nur eine Metapher ist, gibt es doch Analogien zwischen der klassischen Baukunst und der Informationsarchitektur: Man muss sich die Datenmenge als Gebäude vorstellen, durch das man sich hindurchbewegt.

 

Um im Bild zu bleiben: Unternehmen verlieren die Übersicht über ihre eigenen ausufernden Leistungen und Unternehmensinformationen, und der Kunde verläuft sich im Angebot. Wie lösen Sie das?

Indem wir das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen.

 

Woher wissen Sie, welche Information relevant ist und welche nicht?

Wenn man die Informationsarchitektur eines Unternehmens gründlich aufbereitet, stösst man schnell auf die Lücken im Selbst- und Fremdbild. Welche Lücken man nun füllt und welche man offen lässt, sind Fragen, die von der Selbstdefinition des Unternehmens abhängen.

 

Aber streng genommen sind die meisten Daten im Unternehmen wie im Netz Müll: mehrfach abgelegte Dokumente, nichtssagende Posts, Pseudo News. Gibt es vielleicht schon zu viele Daten?

Sind wir pessimistisch, wenn wir davon ausgehen, dass wir mit der Informationstechnologie unserem Geist dasselbe antun, was wir mit analoger Technologie unserer Umwelt angetan haben?

 

Was heisst das? Erleben wir gerade eine Gehirnverschmutzung? Wird durch den Datenmüll unser Denken verunreinigt oder blockiert?

Wir haben mehr und mehr Daten und weniger und weniger Klarheit. Ein Optimist geht davon aus, dass mehr Daten und Interpretationsmöglichkeiten zu einem differenzierteren, weniger ideologischen Bild der Realität führten, weil falsche Annahmen leichter widerlegbar sind. Der Pessimist sieht neben einem sich verbreitenden Relativismus auch eine Verhärtung von Extrempositionen. Gerade die sogenannten sozialen Medien lassen es zu, dass man sich seine Realität aussucht und darin abkapselt. Das gilt nicht nur für politische Positionen. Die Frage ist, welche Position nimmt man ein, wenn man bei der Betrachtung der Informationsgesellschaft Optimismus und Pessimismus vermeidet? Das, denke ich, ist vielleicht nicht die medienträchtigste, aber mit Sicherheit die interessanteste Position.

 

Okay, mal objektiv betrachtet: Führen viele Daten zu besseren Entscheiden?

Nicht zwangsläufig. Zuerst sammelt man Daten, dann versucht man Strukturen zu erkennen. Wenn diese Strukturen nicht zufällig sind – so wie man Gesichter in Wolken entdeckt, wenn man nur lange genug sucht –, findet man Informationen. Wissen entsteht, wenn man diese Informationen sinnvoll miteinander verbinden kann. Aber man braucht Erfahrung im Umgang mit dem Wissen. Erfahrung führt zu einer gewissen Intuition im Umgang mit Information. Je mehr Daten wir haben, desto weiter weg bewegen wir uns vom Wissen und von der Intuition, da wir von der Menge überfordert sind.

 

Heisst das sogar, wir fällen bessere Entscheide, wenn wir weniger wissen?

Wir kennen das aus der Wissenschaft genauso wie aus dem Handwerk: Was man sich theoretisch angeeignet hat, muss zuerst an der Realität überprüft werden, bevor man es wirklich beherrscht. In der Informationsgesellschaft ist jeder ein Fachmann. Mit ein paar Google-Suchanfragen kann ich die Ratschläge meines Hausarztes in Frage stellen. Aber ich habe keine Erfahrung mit der Information, und dadurch keine Intuition. Ich weiss etwas, kann aber nichts damit anfangen. Zudem: Die Suchmaschine, die mir die Ergebnisse geliefert hat, weiss aufgrund meiner Suchanfragen vielleicht bald schon einiges mehr über mich als ich selber. Es kann sein, dass Google weiss, dass ich unter Gürtelrose leide, bevor sich die Symptome zeigen. Das ist unheimlich.

 

Eine modische Reaktion auf die komplexe Datenmenge ist der Versuch, mit Hilfe von Infografiken Daten anschaulich zu machen. Sie haben hier Pionierarbeit geleistet. Stimmt die Annahme, dass wir Zusammenhänge und Abstraktes eher in Bildern als in Texten verstehen?

Mit Informationsgrafiken wird viel Schindluder betrieben. Was man aber mit Sicherheit sagen kann: Bilder sind schneller als Texte. Und überzeugender. Ist die Aufmachung gepflegt, halten wir die Daten schneller für relevant, als wenn man sie in rohen Excel-Sheets sieht.

 

Information is beautiful – aber nicht relevant. Sie schaufeln Ihrem eigenen Stand ein Grab.

 Manche Informationen lassen sich in Bildern besser erklären, andere in Texten. Das zu verstehen und umzusetzen, ist harte Arbeit.

 

Was wären die Grundregeln für jemanden, der das machen will?

Die Grundregel ist, dass eine Informationsgrafik eine klare Geschichte erzählen sollte, ohne den Datensatz zu manipulieren oder die Interpretation zu überspannen. Wie bei jeder Form von Design muss zuerst die Struktur stimmen. Um eine gute Informationsgrafik designen zu können, muss man die Daten genau kennen und verstehen.

 

Was lässt sich grafisch nicht aufbereiten?

Philosophie, Dichtung, Musik, Malerei, Gespräche mit Kindern, Liebesgeschichten …

 

Ein Herz mit einem Pfeil? Wer etwas Wichtiges zu sagen hat, braucht nicht viele Worte.

Aber die Zwischentöne der Liebesgeschichte sind in dem Bild nicht erkennbar! Auch Theorie ist oft nur textlich greifbar. Ich habe eine PowerPoint-Darstellung von Kants «Kritik der Urteilskraft» gesehen. 633 Seiten auf 16 Slides. Das ist naiv. Es geht ja nicht um den lexikalischen Inhalt des Buches, sondern darum, dass man mit Kant Denken lernt.

 

Ganz konkret: Wie fördern Sie mit Ihrem Design das Denken?

Lassen Sie mich ein Beispiel geben: unser Schreibprogramm. Es geht wie bei all meinen Projekten um eine einzige Frage: Was ist das Wesentliche? Der Writer soll nur eines: das Schreiben unterstützen. Sonst nichts. Also habe ich eine grosszügige Darstellung gewählt. Sobald man schreibt, verschwindet alles andere vom Bildschirm, der Fokus bleibt auf dem Satz, in dem man sich befindet. Man kann die Schrift nicht ändern, keine Farben wählen, keine Tabellen einfügen, nichts formatieren. Wir werden dieses Jahr die Millionengrenze überschreiten mit einer App, die das Schreiben und damit das Denken fördert.

 

Welche Qualifikationen benötigen Unternehmen oder Institutionen, um in der Datenflut bestehen zu können?

Die zentrale Erkenntnis lautet: Die Inhalte eines Unternehmens sind das Unternehmen. Das heisst, dass wir nicht die Erscheinung der Inhalte, sondern durch die Inhalte die Erscheinung verbessern sollten. Unternehmen können nicht von heute auf morgen auf den Kopf gestellt werden. Aber sie können ihre eigenen Prozesse verbessern und sich dadurch mittelfristig stark verändern. Bessere Prozesse führen in der Regel zu besseren Ergebnissen. Als Informationsarchitekten können wir die Informationsprozesse vereinfachen. Unser Beitrag ist also alles andere als unwesentlich.

 

Welche Talente werden für Arbeitnehmer in Zukunft wichtiger werden?

Gefragt ist, wer die Fähigkeit hat, in dem konstanten Informationsrauschen das Wesentliche herauszulesen, zu verarbeiten und in klarer, verständlicher Form darüber zu kommunizieren.

 

Wie kann man das lernen?

Kopieren und Wiederholen hat einen schlechten Ruf in unserer Gesellschaft, dabei sind es Schlüssel zum Lernen. Ja, sogar die Voraussetzung, um sich etwas merken zu können. Und dann ist es wichtig, Pausen zu machen. Das fällt auch mir schwer. Wir haben kaum mehr Momente im Alltag, in denen nichts passiert. Ständig lassen wir uns – vor allem durch die mobilen Devices – auf eine neue Anregung ein. Ich will kein Plädoyer fürs Rauchen halten, aber die Zigarette kreierte einen Moment, in dem nichts geschah.

 

Und was gilt für die Arbeitgeber, also Unternehmen in Zukunft?

Ich glaube, dass sich auch immer mehr Unternehmer fragen: Muss ich da überall mitmachen? Verschwende ich nicht meine Zeit, wenn ich jedem neuen Hype hinterherrenne? Konservativismus bietet da leider auch keine Lösung. Technologie schafft mit jeder Lösung neue Probleme. Die muss man angehen. Weder der Rückzug noch die Flucht nach vorne bieten eine Erlösung. Technologie ist weder die Ursache noch die Lösung des Problems. Technologie ist ein Verstärker. Die Frage bleibt aber: Wozu sagen wir als Unternehmen nein?

 

Oliver Reichenstein ist Mitinhaber der digitalen Agentur iA (Information Architects) und gilt als Shootingstar der Webdesign-Branche. Er studierte Philosophie in Basel und an der Sorbonne in Paris, arbeitete anschliessend als Webdesigner in Zürich und zog 2003 nach Tokio. Unter anderem gestaltete er den Internetauftritt von «Zeit Online» sowie des Zürcher «Tages-Anzeigers» neu und verantwortete das Redesign und Rebranding von Doodle. Zu seinen Kunden gehören aber auch die «Süddeutsche Zeitung», Pro Sieben, Ringier, Mozilla, Interio oder Freitag.

 

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