Mit dem Aufkommen der Datengesellschaft bewegen wir uns weg von der bedürfnisorientierten hin zur effektbasierten Entscheidungsfindung. Das macht unsere Welt zwar noch nicht automatisch zu einer besseren. Doch es eröffnet uns die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie wir zu einer solchen kommen.
Entscheidungen implizieren eine Wahl. Die Geschichte des Entscheidens ist so gesehen also noch sehr jung. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war für die meisten Erdbewohner eine ohne Wahl, denn die Welt, in die sie hineingeboren wurden, war eine gegebene, das Leben so gut wie vorherbestimmt. Erst die wissenschaftliche Revolution hat uns die Augen dafür geöffnet, dass eher empirische als göttliche Prinzipien den Lauf der Welt bestimmen. Plötzlich konnten wir die Gesetze verstehen, die die Sterne lenken, unserer Gesundheit oder Wirtschaft zugrunde liegen. Dies veränderte die Beziehung zur Idee des Schicksals und öffnete eine Büchse der Pandora: jene der Entscheidungsmöglichkeiten. Heute können wir im täglichen Meer von Entscheidungen kaum mehr den Kopf über Wasser halten: Manche davon fällen wir bewusst, die meisten jedoch still und unbewusst, viele individuell, während andere des Kollektivs bedürfen, und die Grosszahl betrifft eher kleine Dinge, wenn auch manchmal mit grossen Konsequenzen. Die Fragen, die wir uns dabei stellen, sind auf einer Art Zeitachse angeordnet. Wir werden überschwemmt von Entscheidungsmöglichkeiten, die das Jetzt betreffen («Was soll ich heute essen?»), während uns gleichzeitig unsere fernere Zukunft beschäftigt – «Wie werde ich über die Runden kommen, wenn ich pensioniert bin?» – und wir uns um jene unserer Kinder sorgen: «Welche Auswirkungen hat dies und jenes auf die nächste Generation?» Und als ob das noch nicht reichen würde, bewegen wir uns dabei in einer immer noch schneller, komplexer und verflochtener werdenden Welt, die alles andere als einfach und überschaubar ist. Was preiswert ist, könnte gleichzeitig ungesund sein, was gesund ist, unmoralisch. Wie also werden wir in dieser Welt gute, auf möglichst umfassenden Informationen beruhende Entscheidungen fällen können?
Bevor wir einen Blick in diese Welt werfen, muss jedoch klargestellt werden, dass, wenn von Entscheidungsfindungen die Rede ist, immer nur von einer, nicht von der Welt gesprochen werden kann. Während wir zu viel haben, leiden andere darunter, zu wenig zu haben – eine Kluft, die bestehen bleiben und das Gefühl der Ungleichheit womöglich gar noch verstärken wird. Doch wie wird die künftige Entscheidungskultur in unserer Welt aussehen? Erstens werden wir weniger bedürfnisorientiert, dafür stärker effektbasiert entscheiden. Und zweitens werden wir sehr viel mehr Empathie in unsere Entscheidungen einfliessen lassen.
EFFEKT STATT BEDÜRFNIS
Der Begriff «effektbasiert» bezeichnet, um es einfach auszudrücken, die Fähigkeit, eine informiertere Entscheidung zu treffen, weil wir ihre ganze Auswirkung begreifen: ihre Kurz- und Langzeitwirkung auf unser eigenes Leben genauso wie auf jenes von anderen sowie auf die Umwelt, in der wir alle gemeinsam leben.
Als Konsumenten treffen wir oft Entscheidungen, ohne deren Einfluss genau zu kennen. Es ist alles andere als einfach, die miteinander verwobenen Effekte auf unsere eigene Gesundheit, das Wohlergehen unseres Nachbarn oder die Natur abzuschätzen. Folglich verbringen wir viel Zeit damit, die unabsichtlich entstandenen negativen Folgen einer vermeintlich guten Entscheidung abzufedern, die anderswo gefällt worden ist. Während die einen beispielsweise die Nahrungsmittelproduktion subventionieren, um sie erschwinglich zu machen, müssen andere die Folgen davon durch bessere medizinische Leistungen in den Griff zu bekommen versuchen, da die Subventionen zum Teil unsere chronischen Gesundheitsprobleme verstärken. Auf Mais fokussierte Landwirtschaftspolitik, die Verbreitung von Maissirup und die Zunahme von Fettleibigkeit sowie Diabetes sind ein Paradebeispiel für diesen Zusammenhang. Wir reissen also häufig ein Loch auf, um ein anderes zu stopfen – wobei wir uns nicht aus Gleichgültigkeit so verhalten, sondern oft schlicht aus Unwissenheit. Bereits heute leben wir in einer Datengesellschaft, die uns in Echtzeit eine Unzahl von Informationen liefert. Wir können also annehmen, dass uns Daten in nicht allzu ferner Zukunft ein umfassendes Bild der wahrscheinlichen Folgen einer Entscheidung liefern werden. Zunächst vermutlich noch überwältigt von all der zur Verfügung stehenden Information, werden wir einen Weg finden, die Frage nach den Konsequenzen einer Handlung schliesslich ganz selbstverständlich in unsere Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. Dies könnte zum Beispiel mit Hilfe von digitalen Filtern geschehen, die online erhältliche Produkte und Dienstleistungen aufgrund des Effektkriteriums miteinander vergleichen, oder durch die Unterstützung eines Armbandsensors, der je nachdem warnend oder zustimmend surrt, wenn man eine «effektgeprüfte» Handlung vornimmt, so etwa eine Müeslipackung aus einem Regal nimmt oder in das Taxi eines bestimmten Unternehmens steigt. Die in Echtzeit ausgewerteten riesigen Datenmengen werden unser sechster Sinn sein. Und uns vielleicht irgendwann auch dazu befähigen, selbst sehr grundlegende Fragen zu beantworten: Wird diese Entscheidung sowohl mich als auch andere glücklicher machen? Als Folge wird sich das Konzept der «Marke» weiterentwickeln – vom Versprechen eines bestimmten Werts zum tatsächlichen Einfluss eines Produkts. Unsere Marken werden von unabhängigen Dritten erteilte digitale Echtzeit-Zertifikate erhalten, um uns dabei zu helfen, ihre Wirkung umfassend einzuschätzen. Wir werden also auf einen Blick sehen, wie Handlungen an verschiedenen Orten zusammengewirkt haben, um zu diesem spezifischen Angebot zu führen: Wer hat dieses Joghurt hergestellt, wann, wo, mit welcher Milch von welcher Kuh, wer hat es geliefert und zu welchem Preis für die Umwelt? Wenn überhaupt vorhanden, bezieht sich diese Art von Information heute auf Aspekte der Produktion, doch der nächste Schritt wird sein, sie an Effekte zu koppeln: Führt der Kauf eines Produkts zu besseren Arbeitsbedingungen für dessen Produzenten und ihre Angestellten? Sorgt er in der Gegend, in der es hergestellt wird, für wirtschaftliches wie soziales Wohlergehen?
MIT EMPATHIE ENTSCHEIDEN
Doch wie sollen wir die neu gefundene Freiheit, die die zunehmend datengesteuerte Welt uns schenkt, kanalisieren? Nun, bezogen auf das, worauf es wirklich ankommt: unsere Fähigkeit, in erfüllter Weise zusammenzuleben. Und da wir immer mehr Menschen sein werden, die gleichzeitig von immer weniger Ressourcen abhängig sind, wird die grösste Herausforderung bei der Innovation der Entscheidungsfindung sein, die Menschen dazu zu befähigen, empathisch zu handeln.
Die Empathiefähigkeit eines Einzelnen hängt vom Vermögen ab, das eigene Leben quasi gleichzeitig auch in den Schuhen anderer zu leben – und wie könnte das besser möglich sein als durch neue Formen der Nähe? Physische Nähe half seit jeher dabei, andere besser zu verstehen, ihren Schmerz und ihre Freude zu teilen. Digitale Nähe ermöglicht uns nun, mit Welten in Verbindung zu treten, von denen wir bisher nicht einmal wussten, dass sie existieren. Indem diese für uns sichtbar werden, können wir damit beginnen, Empathie für unsere neuen Realitäten zu entwickeln. Indem sie komplexe Entscheidungen einfacher, intuitiver und selbstverständlicher macht, kann die Technologie uns zudem dabei helfen, unsere neu gewonnene Zeit dazu zu nutzen, menschlicher zu handeln: mehr Zeit mit anderen zu verbringen, wieder näher zusammenzurücken.
Digitale Nähe und das Bewusstsein für die Folgen von Entscheidungen werden jedoch nicht ausreichen, um eine Zukunft aufbauen zu können, die auf empathiegetriebenen Entscheidungen beruht. Was brauchen wir also weiter, um dieses Ziel zu erreichen?
Eine empathische Staatsmacht: Regierungen entwickeln traditionellerweise Lösungen, die stärker auf die Logiken ihrer Organisation als auf jene ihrer Bürger
zugeschnitten sind. So haben sie sich zunehmend von den Bürgern entfremdet, unser Vertrauen und unsere kollektive Fähigkeit, Empathie zu leben, untergraben. Doch mit der Knappheit unserer Ressourcen wächst auch das Bewusstsein dafür, dass den neuen ökonomischen Realitäten nicht durch die bereits existierenden Strukturen begegnet werden kann, sondern wirksame neue geschaffen werden müssen. Regierungen werden sich gewahr, dass sie sich, um dies erreichen zu können, stärker an den Bedürfnissen ihrer Bürger orientieren müssen als an jenen ihrer Organisationen. So werden Staatsmächte nicht nur zu besseren Zuhörern und empathischer, sondern stärken auch das Vertrauen in die Macht der Empathie.
Empathische Märkte: Indem wir unsere täglichen Entscheidungen stärker aufgrund ihrer Effekte fällen, schaffen wir einen neuen Markt, der soziales Wohlergehen wertschätzt. Bürger werden beginnen, nicht nur tiefe Preise sowie eine hohe Produktqualität zu verlangen, sondern auch empathische Marken, deren Reüssieren auf dem Markt für alle von Vorteil ist. So wird eine Gemeinschaft mit empathischer Kompetenz zum Beispiel weniger soziale Risiken – dafür mehr soziale Stabilität und bessere Gesundheit – aufweisen und entsprechend tiefere Versicherungsprämien verlangen. Geschäftsmodelle, die Konsumenten dazu bewegen können, effektbasierte Entscheidungen zu treffen, versprechen langfristig Stabilität und könnten als Investitionsoption entdeckt werden. Es ist ein Modell vorstellbar, bei dem unsere täglichen Konsumationen uns finanziell an die langfristigen Folgen unserer Entscheidungen koppeln: Ich würde eine Banane kaufen und mich damit zu einem Mikro-Mitbesitzer der Bananengesellschaft machen. Ich hätte Anteil an ihren Risiken wie auch an ihrem Erfolg, was mich dazu animieren würde, über die Zukunftsfähigkeit meiner Wahl nachzudenken. Gegen Ende meines Lebens könnte ich dann beginnen, die Erträge all der Mikro-Anteile einzukassieren, die ich durch die Entscheidungen im Lauf meines Lebens erworben habe. Und indem wir unsere täglichen Entscheidungen als Langzeitinvestitionen betrachteten, würden wir eine Gesellschaft von Wirkungs-Investoren schaffen – stets bestrebt, durch ihr Verhalten besser Einfluss zu nehmen auf soziale und generationenübergreifende Entwicklungen.
Die datengetriebene Entscheidungsrevolution wird uns also dazu befähigen, menschlicher zu handeln und so unsere Zukunft nachhaltiger und weniger konfliktreich zu gestalten. Doch natürlich kann dieses Versprechen nicht ohne die Erwähnung des Zadie-Smith-Zitats gemacht werden, dass «die Vergangenheit immer ein Murks [ist], die Zukunft jedoch perfekt».
MARCO STEINBERG ist Strategiedesigner sowie Gründer und Leiter des Beratungsunternehmens Snowcone & Haystack in Helsinki, wo er sein Büro mit dem ehemaligen finnischen Premierminister Esko Aho teilt. Steinbergs Interesse gilt dem Finden von effektiven Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen, wobei er gerne Visualisierungen benutzt, die plötzlich einen ganz neuen Blick auf den Sachverhalt ermöglichen. So leitete er etwa ein Projekt zur Verbesserung landesweiter medizinischer Versorgung bei Notfällen in den USA, beschäftigt sich aber auch intensiv mit Fragen rund um den Klimawandel. Von 1999 bis 2009 war Steinberg Professor an der Harvard Design School in Cambridge und danach Chef-Strategiedesigner beim finnischen Innovationsfonds Sitra. Ausserdem ist er Autor und Mitherausgeber mehrerer Bücher, darunter Recipes for Systemic Change.