Egal, ob persönliche Erinnerung, die synaptische Verschaltung des Gehirns oder unser Erbgut: Alles ist wandelbar. Die grösste Konstante der Menschheit ist wohl, dass fast nichts konstant bleibt. Die Frage ist also: Warum bleibt genau das, was bleibt? Und wer oder was entscheidet darüber?
Der Mensch ist – die Schlafenszeit einmal abgezählt – rund 16 Stunden am Tag neuen Eindrücken ausgesetzt, 365-mal im Jahr. Das ergibt pro Jahrzehnt 58 400 Stunden, 3,5 Millionen Minuten oder rund 210 Millionen Sekunden Material. Da wir mit so viel Ballast im Kopf aber kaum mehr handlungsfähig wären, speichert unser Gehirn nur sehr selektiv Dinge ab, die jederzeit bewusst wieder abrufbar sind.
Die Gedächtnisforschung zeigt, dass sich vor allem die Ereignisse aus Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter einprägen. So finden sich bei alten Menschen in der Regel ein «Erinnerungshügel» um die Zeit zwischen 15 und 25 Jahren sowie «Erinnerungstäler» für die lange Zeit danach. Das liegt zum einen daran, dass in den Jugendjahren viele Dinge zum erstenmal erlebt werden und intensive Gefühle die Erinnerungsfähigkeit verstärken. Doch auch zwei weitere Phänomene sind dafür verantwortlich. Einerseits die Tatsache, dass das, was zuerst ins Gehirn kommt, auch zuletzt aus ihm verschwindet, und andererseits, dass im Alter jüngste Lebensereignisse nur wenig lange präsent sind. Es wird angenommen, dass im hohen Alter ein Zerfallsprozess der Nervenzellen in der Hirnrinde einsetzt. Dieser Zerfallsprozess wiederum bedeutet, dass die im gesunden Gehirn vorherrschende Hemmung sich vermindert und damit Erinnerungen reaktiviert werden, die zuvor unterdrückt waren. Auch unter Hypnose oder nach Injektion so genannter Wahrheitsdrogen wird deutlich: Die Vergangenheit ist in unserem Gehirn noch weit mehr präsent, als uns bewusst ist. Immerhin soll die menschliche Hirnrinde angeblich rund 3 x 108 bit speichern können. 95 Prozent von allem, was wir aufnehmen, werden allerdings unbewusst «abgelagert»: Während bewusste Erinnerungen ein Zusammenspiel von Hirnrinde und Emotionen verarbeitenden Regionen wie dem Mandelkern verlangen, kann Unbewusstes isolierter und teilweise auch tiefer im Hirn gespeichert werden.
Unsere Vergangenheit und die Erinnerung an sie entsprechen jedoch keinem aus Stein oder Bronze gemeisselten Denkmal, im Gegenteil, sie verändern sich ständig. Dies gilt vor allem für unsere persönlichen, autobiografischen Erlebnisse. Diese werden subjektiv und damit stimmungsabhängig eingespeichert und abgerufen. Ideal ist deswegen eine Konkordanz der Stimmungen und Umweltverhältnisse bei Aufnahme und Wiederabruf von Erlebnissen. Am Beispiel: Sie schlenderten vor 15 Jahren durch die Strassen Singapurs. Jetzt gehen Sie wieder durch Singapur und plötzlich fällt Ihnen ein, dass es links um eine Strassenecke einen Hindutempel mit vielen bunten Götterfiguren gibt. Sie hatten in der Zwischenzeit nie an den Tempel gedacht, aber die Urlaubsstimmung, die exotischen Strassengerüche, die schwüle Luft – all diese Reize bringen die Erinnerung an den Tempel zurück. Jeder Abruf führt zudem zu einer erneuten Einspeicherung des Abgerufenen – allerdings unter den gegenwärtigen emotionalen und Umweltbedingungen. Dadurch verändert sich die Wiedereinspeicherung, aus Ereignis A wird Ereignis A’ usw. Man kann sich dies vorstellen, als würde ein Gedicht von Joseph von Eichendorff vom Deutschen ins Französische, von dort ins Japanische und dann wieder zurück ins Deutsche übersetzt. Dass derartige Veränderungen selbst bei einschneidenden Ereignissen auftreten, haben Forscher mehrfach nachgewiesen, so etwa bei zeitlich um Jahre versetzten Fragen danach, was man am 11. September 2001 gemacht habe.
Allerdings sind nicht nur unsere Erinnerungen wandelbar, sondern auch ihr Träger selbst, das Gehirn. Das Gebiet der Gehirnplastizität erforscht, wie sich Nervenzellen aufgrund von Umwelteinflüssen verändern, also sich stärker zusammenkuppeln oder umgekehrt Verbindungen verlieren. So fand man etwa, dass bei Londoner Taxifahrern sich der Teilbereich einer Hirnregion (des Hippocampus) umso mehr vergrösserte, je länger sie berufstätig waren. Da dieser Hirnbereich für räumliches Vorstellungsvermögen und räumliches Gedächtnis wichtig ist, hat sich offensichtlich benutzungsabhängig die Dichte der Verbindungen in ihm erhöht, was sich in der Hirnbildgebung als vergrössertes Volumen niederschlägt. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich, wenn Leute plötzlich anfingen, intensiv jonglieren zu üben.
Die Erkenntnisse werfen – überspitzt gesagt – die Frage auf, ob die Menschheit als Ganzes durch gezieltes Gehirntraining neu «designt» werden könnte. Zu verlockend ist etwa der Gedanke, aggressionsminderndes Verhalten im Dienste einer friedlicheren Zukunft zu fördern. Viele werden nun dagegenhalten, das gehe natürlich nicht. Unsere Spezies sei einfach dazu «verurteilt», immer wieder Kriege anzuzetteln, das sei nun mal die menschliche Veranlagung. Doch Studien aus dem Gebiet der Epigenetik machen klar: Wir sind nicht Sklaven unserer Gene. Analog zur Erinnerung und zum Gedächtnis selbst ist auch unser Erbgut nicht in Stein gemeisselt. Es kann je nach aktueller Umwelt exprimiert – also angeschaltet – werden oder nicht. Insbesondere der Erziehung und der Umfeldstimulation in der frühen Kindheit kommt dabei eine sehr hohe Bedeutung zu. Dies belegen u. a. Studien an schlecht behandelten Waisenkindern aus früheren Ostblockländern, deren Gehirn auch im späteren Alter wenig Bindungshormone produziert, oder auch Untersuchungen, die einen drastischen Anstieg der genetischen Determiniertheit der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten von 23 Prozent in der frühen Kindheit auf 62 Prozent in der mittleren Kindheit nachwiesen.
Dass sich die Menschheit auch weiterhin stark verändern wird, steht also so gut wie fest – erstens, da das menschliche Gehirn je nach Nutzung neu «codiert» werden kann, und zweitens, da ein Teil der durch Erziehung und Umwelt gemachten Erfahrungen das Erbgut verändert sowie möglicherweise transgenerational tradiert wird. Was vom menschlichen «Wesen» langfristig bleiben und was sich konkret verändern wird, gehört natürlich weitgehend in den Bereich der Spekulation. Doch immerhin liegt es ein Stück weit in unserer Hand – genauso wie Erinnerungen an die eigene Hochzeit und sogar die mathematische Begabung unseres Gehirns.
Hans J. Markowitsch ist Biopsychologe und Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Gehirn- und Gedächtnisforschung, u.a. von «Das Gedächtnis: Entwicklung, Funktionen, Störungen», «Tatort Gehirn: Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens» oder – gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer – «Das autobiographische Gedächtnis: Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklungen.