Die steigende Lebenserwartung wird die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts neu definieren. Dennoch beschäftigen wir uns nur oberflächlich mit den Folgen für die sozialen und ökonomischen Strukturen. Es ist an der Zeit, sich differenziert mit den Lebensbedingungen der Altersgesellschaft zu beschäftigen – und die soziale Infrastruktur dafür zu entwickeln.
Von Stephan Sigrist
Dass unsere Gesellschaft älter wird, ist seit langer Zeit offizieller Bestandteil eines jeden Zukunftsszenarios – ob für den Gesundheitssektor, die finanzielle Vorsorge oder die Immobilienbranche. Selbst die Hersteller elektronischer Gadgets richten sich seit geraumer Zeit nach den Anforderungen der Alterskonsumenten, beispielsweise durch vermeintlich hoch innovative Geräte mit überdimensionierten Tasten oder farbige Uhren, die den Puls messen. Auch sind die wichtigsten Handlungsfelder längst identifiziert: Wir benötigen mehr Altersheime und mehr Pflegepersonal und wir werden alle länger arbeiten müssen.
In der Realität widerspiegeln sich diese Erkenntnisse aber kaum. Denn obschon es bekannt und unumstritten ist, dass Menschen über 60 in absehbarer Zeit die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen werden, sind gesellschaftliche Werte, Konsum und Kultur nach wie vor zu einem hohen Mass auf die dynamische Jugend ausgerichtet. Das Altwerden – mehrheitlich assoziiert mit einem Rückgang von körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, Dynamik und Flexibilität – wird zu einem grossen Teil ausgeklammert: Alte Menschen sind selten Teil des Stadtbildes pulsierender Metropolen, Jung und Alt treffen ausserhalb weniger Familienfeste immer seltener aufeinander. Die Auseinandersetzung mit dem Altwerden wird im Alltag mehrheitlich verdrängt.
Als Folge sind denn auch die Vorstellungen von der alternden Gesellschaft wenig differenziert und beschränken sich auf stereotype Bilder, die zum einen dystopische, zum anderen utopische Züge annehmen. Das zentrale Motiv dabei ist dasjenige einer Gesellschaft, die unter einer rückläufigen Produktivität leidet und gegenüber Schwellenländern mit deutlich höheren Anteilen junger Bevölkerungsschichten an Dynamik und Wirtschaftswachstum einbüsst. Die Altersvorsorge ist nicht mehr gewährleistet, starke Armut im Alter und Arbeitszwang bis kurz vor den Tod sind die Folgen. Auf der anderen Seite wird seit längerer Zeit ein narrativer Gegenpol der «Silver Surfer» oder der «goldenen Generation» gefördert, der alte Menschen als aktive Treiber der Konsumgütermärkte darstellt, die die Bedürfnisse ihrer Jugend und aktiven Erwachsenenjahre bis ins hohe Alter weiterpflegen, Reisen nach Goa und Honolulu unternehmen und der Kosmetik wie der Functional-Food-Industrie zu neuen Höheflügen verhelfen.
So stehen wir heute am Vorabend der vielleicht grössten sozialen Umwälzung des 21. Jahrhunderts, ohne dass wir uns ernsthaft mit den Folgen für die Gesellschaft und die Wirtschaft auseinandersetzen. Nach wie vor fehlen realistische Lösungen und Ideen, wie ältere Menschen im Berufsalltag integriert bleiben können. Auch gibt es kaum Antworten auf die Frage, wie die Solidarität zwischen Alt und Jung wiederbelebt werden könnte.
Zwei Handlungsfelder:
1. Das Altwerden neu denken
Zum einen gilt es, den stereotypen Rollenbildern eine differenzierte Position entgegenzustellen, die der manchmal harten Realität des Altwerdens, gleichzeitig aber auch ihren positiven Folgen und Chancen Rechnung trägt. Das bedeutet, davon auszugehen, dass wir mit längerem Leben automatisch auch länger arbeiten müssen, mit dem höheren Durchschnittsalter chronische Krankheiten weiter zunehmen werden und immer mehr Menschen ihren Lebensabend nur mit Einschränkungen «geniessen» können. Auch ist davon auszugehen, dass der Mut oder die Lust dazu, Neues auszuprobieren, mit der alternden Bevölkerung abnimmt. Das heisst aber nicht, dass alte Menschen nicht weiterhin Ziele verwirklichen wollen, aktiv am Leben teilnehmen und vor allem auch Verantwortung wahrnehmen können – nur eben unter anderen Voraussetzungen. Wenn diese gegeben sind, eröffnen sich neue Chancen für Individuen genauso wie für Unternehmen und die Gesellschaft. Drei Vorschläge:
- Erstens: Einbindung von älteren Menschen in Gemeinschafts- und Familienarbeit
Vielen jungen Familien fehlt die familiäre Unterstützung bei der Kinderbetreuung – aus geografischen Gründen oder weil die Grosseltern selbst noch arbeitstätig sind. Mithilfe von seriösen Vermittlungsplattformen liessen sich dafür pensionierte Menschen finden, die gerne mehr sozialen Austausch hätten und sich flexibel um die Kinder oder den Haushalt kümmern könnten. Das wäre eine sinnstiftende Tätigkeit für ältere Menschen, die die jungen Familien entlastet und langfristig die Solidarität zwischen Alt und Jung fördert.
- Zweitens: Einsetzen von älteren Arbeitskräften durch Unterstützung von Technologie
Ältere Menschen können mithilfe (digitaler) Technologien länger Teil der Arbeitswelt bleiben. Das Internet beispielsweise ermöglicht flexible Einsätze von Zuhause aus. So können Unternehmen vom Erfahrungsschatz älterer Mitarbeiter profitieren, ohne die Infrastrukturkosten weiter zu erhöhen. In nächster Zukunft könnten Roboter, beispielsweise in der Pflege, die schwere körperliche Arbeit übernehmen, während die emotionale Betreuung durch menschliche Fachkräfte bis ins hohe Alter wahrgenommen werden kann.
- Drittens: eine flexiblere Gestaltung von Lebens- und Karriereplanung
Die grösste Chance ergibt sich letztlich aus der neu gewonnenen Zeit, die wir mit den zusätzlichen Lebensjahren gewinnen. Diese eröffnen uns mehr Flexibilität und in der Folge neue Perspektiven in Bezug auf die Planung unserer Karriere wie unseres privaten Lebens. Der Begriff des «lebenslangen Lernens» könnte tatsächlich gelebt werden, wird es doch möglich sein, ein zweites Studium mit 65 Jahren zu beginnen. Die Vereinbarkeit von Karriere und Kindern wird auch einfacher – der längere Arbeitshorizont lässt genügend Zeit, die Karriere auch nach den Kindern weiter auszubauen.
2. Die Altersinfrastruktur aufbauen
Um diese und weitere Potenziale der Altersgesellschaft zu nutzen, braucht es konkrete, angewandte Forschungsfelder und Pilotprojekte mit dem Ziel, eine neue Infrastruktur für die Altersgesellschaft zu entwickeln.
Dies erfordert zuallererst eine erweiterte Definition von Innovation, eine, die nicht nur auf die technische Leistungsfähigkeit von neuen Produkten und die ökonomische Profitabilität von Geschäftsmodellen ausgerichtet ist, sondern auch auf den Mehrwert, der sich daraus für die älteren Menschen ergibt.
Dazu gehört eine ganze Reihe von Fragestellungen, die es für die Altersgesellschaft zu klären gibt. Beispielsweise spielen die Schaffung von sinnvollen Schnittstellen zwischen Menschen und Maschinen wie auch ein wohlgeformtes, zugängliches Design der Maschinen selbst eine zentrale Rolle, damit sie nutzbringend in den Alltag von älteren Menschen integriert werden können – und von diesen auch akzeptiert werden. Pflegeroboter in Japan haben aus diesem Grund oftmals die Gestalt von Seehunden oder Bären.
Ferner spielt die Infrastruktur von Wohnungen eine zentrale Rolle. Diese sollte sowohl Sicherheit bieten als auch ein selbstständiges Leben und einen aktiven, gesunden Lebensstil fördern. Eine preisgekrönte Alterswohnung von japanischen Architekten zeigt, was dies bedeuten könnte: Einem Fitnessparcours nachgebaut, wurden der Seniorenwohnung kleine Steigungen, extra hohe Schubladen und Kletterelemente eingebaut, um die Bewohner dazu zu zwingen, tagtäglich ihre Muskelkraft zu trainieren.
Im Zentrum steht aber die Schaffung von Rollenmodellen älterer Menschen, die trotz gesundheitlicher Handycaps ein erfülltes, aktives und produktives Leben führen können. Dies zu entwickeln und zu fördern ist zentrale Herausforderung von Unternehmen wie auch der Politik. Im Kern aber beginnt diese Aufgabe in unserem Alltag, in der eigenen Familie oder der Nachbarschaft.
Eine verkürzte Version des Textes erschien am 25. Januar 2015 in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag.
[Web for Interdisciplinary Research & Expertise]
Think Tank für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft
Hallwylstrasse 22 | CH-8004 Zürich
+41 43 243 90 56 | info@thewire.ch | www.thewire.ch