DER ERWEITERTE PATIENT
Mit dem Metaversum sollen die digitalen Plattformen der Gegenwart zu einem gemeinsamen Raum verbunden werden. Das Gesundheitswesen könnte von der Konsultation bis zu komplexen Operationen davon profitieren. Doch bis es so weit ist, müssen Technologie, Politik und Gesellschaft noch weiter an den Grundlagen arbeiten. Was es braucht, damit die nächste Generation des Internets zudem gemeinsames Erleben und Solidarität fördern, diskutieren der National Technology Officer (NTO) von Microsoft Schweiz, Marc Holitscher, und der Soziologe Jonathan Harth.
ONLINE-SUCHT – DIGITAL BEKÄMPFEN?
Abhängigkeiten bei der Internetnutzung nehmen seit Jahren zu und die Betroffenen werden immer jünger. Zudem ist davon auszugehen, dass die Attraktivität digitaler Anwendungen steigen wird, was die Gefahr einer Sucht verstärkt. Dabei stehen mit digitalen Therapieangeboten heute Möglichkeiten zur Verfügung, um mehr Menschen einfacher zu erreichen. Die Psychologen Franz Eidenbenz und Hans-Jürgen Rumpf sehen in einer fachlich fundierten Behandlung unter Berücksichtigung anderer psychischer Leiden den Schlüssel für eine erfolgreiche Therapie und plädieren für einen breiten Einsatz digitaler Hilfsmittel mit klar definierten Grenzen.
PSYCHISCHE GESUNDHEIT – MIT DIGITALEN HELFERN ZUM PARADIGMENWECHSEL
Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert und die Versorgung von Betroffenen findet häufig zu spät statt. Für Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, und David Ebert, Professor für Psychologie an der Universität München, ist unstrittig, dass die Gesellschaft noch weit von den Basiskompetenzen im Umgang mit der Psyche entfernt ist. Mit digitalen Anwendungen lässt sich das Problem nicht einfach lösen, aber sie legen die Grundlage für einen Paradigmenwechsel in der psychologischen Behandlung hin zu einer patientenzentrierten Sicht.
GENETIK UND BIG DATA – ZUM RECHT AUF NICHTWISSEN IM DIGITALEN ZEITALTER
Mit dem Recht auf Nichtwissen ist gesetzlich verankert, dass Menschen Informationen über ihr Genom verweigern können – etwa, um nichts über die Veranlagung einer unheilbaren Erbkrankheit zu erfahren. Welche Relevanz die Digitalisierung – als Treiber der Wissensgesellschaft – auf das Recht auf Nichtwissen hat, erklärt Professor Christian Lenk von der Universität Ulm. Für ihn bleibt das Recht auf Nichtwissen auch in Zukunft den Patienten bei genetischen Untersuchungen vorbehalten, es liefert aber Inspiration für einen gerechteren Einsatz digitaler Technologien.
PERSONALISIERTE MEDIZIN
Die Medizin der Zukunft setzt auf personalisierte Gesundheit und will so den Veranlagungen und Besonderheiten der individuellen PatientInnen gerecht werden. Die Grundlage hierfür bietet die Genforschung, aber auch die immer lückenlosere Auswertung von digital erhobenen Alltagsdaten. Im Interview führt die auf Medizin und Ethik spezialisierte Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack aus, weshalb diese Personalisierung keine Gefahr für die Solidarität im öffentlichen Gesundheitswesen darstellen muss. Ungewiss sei aber, ob sich wirklich alle PatientInnen noch eine menschliche Begleitung der maschinellen Personalisierung leisten können.
CONTACT-TRACING
Im Kampf gegen Covid-19 setzen die Schweiz und weitere Staaten auf digitales Contact-Tracing. Die Weitergabe eigener Daten sei angesichts der Pandemie eine Form der praktizierten Solidarität, sagt die Ethikerin Dorothea Baur. Unser Bewusstsein für den gesellschaftlichen, nicht-kommerziellen Wert von Daten schärfe sich.
«DER SOZIALE ROBOTER KÖNNTE EIN TEAMMITGLIED WERDEN»
Soziale Roboter etablieren sich – in der Medizin, der Betagtenpflege, im Beziehungsleben. Bart de Witte, Experte für die digitale Transformation im Gesundheitswesen, und Hartmut Schulze, Arbeitspsychologe und Leiter des FHNW Robo-Lab, erklären im Gespräch, wie diese Technologie in der Pflege und in der Altenbetreuung zum Einsatz kommen wird. Während de Witte die Roboter als Herausforderung für die Solidarität der Gesellschaft sieht, zeigt Schulze Möglichkeiten auf, wie der Zusammenhalt unter Menschen durch soziale Roboter noch gestärkt werden könnte.
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IST NICHT DISKRIMINIERENDER ALS DIE DATEN, MIT DENEN SIE GEFÜTTERT WIRD
Der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) als nächste Stufe algorithmenbasierter Entscheidungen breitet sich branchenübergreifend aus und damit auch das Risiko für Diskriminierung von Einzelpersonen und Gruppen. Henrike Schlottmann und Jan Kuhlen vom «Zentrum für digitalen Fortschritt» erklären im Interview, was unternommen werden kann, um unerwünschte Ungleichbehandlung zu reduzieren. Im Zentrum ihrer Einschätzung steht die These, dass künstliche Intelligenz gesellschaftliche Verzerrungen lediglich widerspiegelt und dass durch die Systematisierung der Fehler die Diskriminierung einfacher korrigierbar werden kann – im digitalen wie im analogen Leben.
«DAS ELEKTRONISCHE PATIENTENDOSSIER SETZT DIE SOLIDARITÄT UNTER DRUCK»
Das elektronische Patientendossier (EPD) soll Patienten und Gesundheitseinrichtungen nicht nur die zentrale Speicherung von personenbezogenen Daten ermöglichen. Es verspricht auch mehr Effizienz. Was die Folgen für die Solidarität sein könnten, erklärt Professor Volker Amelung. Er hat für die deutsche Stiftung Münch untersucht, wieso die Einführung der Patientendossiers in Europa unterschiedlich vorankommt. Die Schweiz liegt damit im europäischen Durchschnitt. Spitzenreiter bleiben die skandinavischen Länder, Schlusslicht des Rankings bilden Slowenien und Irland. Der Studienleiter sieht die Ursache in den unterschiedlichen Governance-Strukturen. Er ist der Meinung, dass es vor allem überzeugende Führungspersonen brauche - und etwas Zwang.
FRAGEN UND ANTWORTEN ZUR SOLIDARITÄT IM SCHWEIZER GESUNDHEITSWESEN
«DURCH DIE DIGITALISIERUNG HAT EINE EMANZIPIERUNG VON RANDGRUPPEN STATTGEFUNDEN»
Der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder beschreibt, wie durch die Digitalisierung eine neue Infrastruktur für soziale Prozesse geschaffen werden konnte. Diese erlaubt marginalisierten Gruppen, ihre alternativen Lebenswelten gesellschaftlich breiter einzubringen. Die Solidarität hingegen droht durch die Digitalisierung zu erodieren. Dies zeigt sich auch im Gesundheitswesen.
DIE SELBSTVERMESSUNG ALS SPRECHENDES TAGEBUCH
Mit Smartphones und Fitnesstrackern ausgerüstet, zählen Menschen ihre Schritte, vermessen ihren Schlaf und beziffern ihre Leistungsfähigkeit, um sich selbst zu optimieren und besser zu verstehen. Der Soziologe Stefan Selke argumentiert, dass mit der Selbstvermessung gesellschaftliche Herausforderungen auf das Individuum verlagert werden. Weshalb das problematisch ist und wie uns die Selbstvermessung dennoch etwas nützen könnte, verrät er im Gespräch.
MITMACHEN STATT BEMITLEIDEN
Spenden ist ein Akt der Solidarität. Den vielen neuen Online-Kanälen zum Trotz hat sich die Digitalisierung bisher kaum auf das Spendenverhalten ausgewirkt. Das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Um in Zukunft an Spender zu gelangen, müssen nicht die Hilfebedürftigen, sondern die Gemeinschaft der Helfenden ins Rampen licht gestellt werden. Und dies gelingt online am besten – mit dem Risiko einer zunehmenden Radikalisierung von Werten.
EINE PERSONALISIERTE ERNÄHRUNG ERFORDERT EINE NEUE ESSKULTUR
Essen verbindet Menschen seit jeher. Doch was passiert, wenn wir plötzlich alle einen anderen Menuplan haben? Mit dem Aufkommen der individualisierten Ernährung basierend auf DNA-Analysen reduzieren sich die Möglichkeiten des gemeinsamen Essens – in der Familie, mit Freunden oder in der Kantine. Kochen für grosse Gruppen wird zur Herausforderung. Gleichzeitig könnte die massgeschneiderte Ernährung aber auch neue Gemeinschaften hervorrufen - man isst mit denen, die Gleiches vertragen.
Doch selbst dann dürfte die personalisierte Ernährung die Solidarität in der Gemeinschaft auf die Probe stellen. Wird man es tolerieren, wenn Menschen Dinge essen, die nachweislich – aufgrund einer genetischen Veranlagung – ihrer Gesundheit schaden? Wer Essen als Instrument zur vermeintlichen Steuerung der eigenen Gesundheit nicht nutzt, könnte an den Pranger gestellt werden.
«EINER FÜR ALLE – ALLE FÜR EINEN» ZUR VERANKERUNG DES SOLIDARITÄTSPRINZIPS IN DER GESETZGEBUNG
Solidarität als implizites oder explizites Verfassungsprinzip stützt den Zusammenhalt einer Gesellschaft und ist fester Bestandteil der Politik sowohl in der Schweiz als auch in den europäischen Nachbarländern. Bei der historischen Entwicklung der modernen Sozialstaaten nimmt das Solidaritätsprinzip eine prägende Rolle ein, wobei sich das Verständnis in liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Modellen stark unterscheidet. Der Druck auf die einzelnen Sozialsysteme und die heterogenen Interpretationen von Solidarität erschweren aktuell eine gemeinsame Position auf europäischer Ebene.
SMART HOME STATT ALTENSTÖCKLI
Digitale Technologien sollen Solidarität und Austausch zwischen den Generationen fördern. Dies gelingt aber oft erst dann, wenn analoge Voraussetzungen erfüllt sind.